Samstag, 30. November 2013

Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode trägt den Titel "Deutschlands Zukunft gestalten". Besonders umstritten waren und sind Fragen den Arbeitsmarkt betreffend, denn bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen wurde die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde seitens der SPD als conditio sine qua non für den erfolgreichen Abschluss eines Vertrages in den politischen Raum gestellt. Nunmehr liegt er also vor, der große Koalitionsvertrag und damit haben wir die Möglichkeit wie die Verpflichtung, einmal genauer hinzuschauen. Und neben dem Mindestlohn gibt es weitere arbeitsmarktliche Baustellen, vor allem bei der Leiharbeit und den Werkverträgen, die es in diesem Kontext zu analysieren und - soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt angesichts der "Koalitionsvertragslyrik" überhaupt leisten kann - auch zu bewerten gilt.

Beginnen wir mit dem Mindestlohn, konkreter in seiner von der SPD gleichsam als Vorbedingung für das gemeinsame Regieren geforderten Form als flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Kommt er? Die Antwort nach einem Blick in den Koalitionsvertrag muss so ausfallen: Im Prinzip ja, aber. Diese Antwort-Kategorie mit ihrer Anlehnung an das Radio-Eriwan-Prinzip ist natürlich auf der einen Seite eine gemein daherkommende Überspitzung angesichts der Tatsache, dass man das Ergebnis durchaus als einen großen Durchbruch angesichts der bisherigen Widerständigkeit gegen einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn als solchen sowie den heftigen, aggressiven Angriffen aus Teilen der Wirtschaft wie auch aus dem Mainstream der deutschen Wirtschaftswissenschaften gegen die vorgesehene Höhe von 8,50 Euro pro Stunde bewerten kann. Auf der anderen Seite bildet die "Im Prinzip ja, aber"-Formel genau das ab, was wir dazu im vorliegenden Vertragstext finden:

»Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.« (S. 68)

Erster Befund: Der Mindestlohn wird kommen und das auch in der geforderten Höhe von 8,50 Euro. Aber erst zum 01.01.2015. Damit hat man schon mal das gesamte kommende Jahr "gewonnen" für eine "mindestlohnfreie" Zeit. Das bedeutet im Ergebnis aber auch, dass es keine 8,50 Euro pro Stunde von heute sein werden, denn nominal 8,50 Euro 2015 werden real keine 8,50 Euro des Jahres 2013 sein können. Außerdem ergibt sich eine weitere Einschränkung aus der Formulierung im Vertrag, dass "nur Mindestlöhne nach dem AEntG" unberührt bleiben von der Einführungsvorschrift. Damit sind die Branchenmindestlöhne gemeint. Hier lohnt allerdings ein genauerer Blick auf die dort fixierten Branchenmindestlöhne, die nach dem AEntG allgemein verbindlich erklärt worden sind. Denn es gibt hier einige Branchen-Mindestlöhne, die unter der angeblich "nicht-verhandelbaren" Lohnschwelle von 8,50 Euro pro Stunde liegen - und die betreffen bis auf eine Ausnahme immer Ostdeutschland:
  • In der Gebäudereinigung liegt der Mindestlohn (LG1) derzeit bei 7,56 Euro, Ab dem 01.01.2014 werden es 7,96 Euro sein und eine weitere Anhebung auf 8,24 Euro ist für den 01.01.2015 vorgesehen.
  • In der Pflegebranche liegt der Mindestlohn in den ostdeutschen Bundesländern bei 8,00 Euro.
  • Bei den Sicherheitsdienstleistungen liegt der Mindestlohn derzeit bei 7,50 Euro, hier nicht nur in Ostdeutschland, sondern ebenfalls in zahlreichen westdeutschen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein usw.)
  • Und schlussendlich haben wir noch die Leiharbeit, wo erst vor kurzem die Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben mit den Arbeitgebern der Branchen: Während für Westdeutschland ab dem kommenden Jahr ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten wird, sieht der Tarifvertrag für Ostdeutschland nach unten abweichende Regelungen vor:  Ab dem 01.01.2014 werden es dort 7,86 Euro sein, ab dem 01.04.2015 dann 8,20 Euro und die heute geforderten 8,50 Euro werden nach diesem Tarifwerk erst am 30.06.2016 erreicht sein.
Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass über diesen Weg eine auch von grundsätzlichen Befürwortern eines gesetzlichen Mindestlohns bei der Diskussion über die konkrete Einstiegshöhe von 8,50 Euro ins Spiel gebrachte abweichende Übergangsregelung für Ostdeutschland realisiert wird aufgrund der vielen Niedriglohnbranchen dort, um schockartige Anpassungsprozesse mit größeren Arbeitsplatzverlusten zu vermeiden oder abzumildern. Allerdings ist das keine zeitlich eng befristete regionale Differenzierung einer allgemeinen Lohnuntergrenze, sondern wir sind hier konfrontiert mit unterschiedlich niedrigeren Mindestlöhnen in einigen Branchen, die es in der Vergangenheit unter den Schutzschirm des Arbeitnehmerentsendegesetzes geschafft haben.

Aber die weiteren Formulierungen im Koalitionsvertrag verkomplizieren die Situation sogar noch, denn nach dem bereits zitierten Passus mit der grundsätzlichen Einführungsvorschrift zum 01.01.2015 unter Herausnahme der behandelten Branchenmindestlöhne nach AEntG werden weitere Ausnahmetatbestände aufgeführt - und die nun wieder nicht differenziert nach West und Ost:

»Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:
• Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene
• Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneinge- schränkt.
• Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
• Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
• Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohniveau bis spätestens zum 1. Januar 2017 erreicht wird, eu- roparechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen.«

In der einfachen und zusammenfassenden Übersetzung bedeutet das: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von (dann) 8,50 Euro pro Stunde kommt definitiv - am 01.01.2017. Dann uneingeschränkt. Bis dahin - also während der kommenden drei Jahre - können aber Tarifvertragspartner in bestimmten Branchen, wenn sie denn wollen, Abweichungen nach unten vornehmen.

Jetzt ist es aber genug mit den Ausnahmen - oder doch nicht? Nein, nicht ganz, denn ein weiterer, überaus flexibel gehaltener Passus findet sich zum Thema Mindestlohn im Koalitionsvertrag:

»Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Bran- chen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen.«

Das zielt nun eben nicht nur auf die Saisonarbeit, besonders relevant für die Landwirtschaft mit ihren zumeist osteuropäischen Saisonkräften, deren Herausnahme aus dem "flächendeckenden" gesetzlichen Mindestlohn offensichtlich über diese Formulierung vorbereitet wird. Sondern die Saisonkräfte stehen dort nur als ein Beispiel für die grundsätzliche Bereitschaft, mit allen Branchen im Gesetzgebungsverfahren zum Mindestlohn über dann vorgetragene Probleme einer Mindestlohnimplementierung zu sprechen und deren Spezifika falls notwendig auch zu "berücksichtigen", was immer das bedeutet.

Fazit: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt - in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.